Potentialentfaltung in der Pubertät – Prof. Dr. Gerald Hüther im Interview

Darauf haben wir alle gewartet. Jetzt ist es da.

Lese hier das Gespräch mit Prof. Dr. Gerald Hüther für den Pubertät Experten Kongress 2015: 

404803_308007835920995_1191452712_n

Foto: Josef Fischschnaller

Regine Wolf:

Herr Prof. Dr. Hüther, Sie sind Professor der Neurobiologie und ein „Brückenbauer“ sozusagen zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlicher bzw. individueller Lebenspraxis.

Ihr Ziel ist es, günstigere Voraussetzungen für die Entfaltung menschlicher Potentiale zu schaffen – speziell im Bereich Erziehung und Bildung sowie auf der Ebene der politischen und wirtschaftlichen Führung.

Heute geht es um die Potentialentfaltung in der Pubertät.

 

Was brauchen Jugendliche, um ihr volles Potential zu entfalten?

Prof. Dr. Gerald Hüther:

Um die in ihnen angelegten Möglichkeiten zur Entfaltung bringen zu können, dürften Jugendliche nie das Gefühl haben, von anderen als Objekte benutzt, zu Objekten von deren Absichten und Interessen, deren Bewertungen und Erwartungen oder gar deren Maßnahmen und Anordnungen gemacht zu werden.

 

Was bedeutet das konkret für die Eltern der Jugendlichen – wie sollen sie sich ihren Teenagern gegenüber verhalten bzw. mit ihnen umgehen?
Welche Grundlagen können sie wie schaffen?

Prof. Dr. Gerald Hüther:

Eltern müssten dazu versuchen, ihr Kind ernst zu nehmen, ihm zuzuhören und ihm Fragen zu stellen, sie müssten es in seiner Einzigartigkeit wertschätzen und ihm das Gefühl zu schenken, bei ihnen und mit ihrer Unterstützung die in ihnen angelegten Talente und Begabungen entfalten zu können.

Wenn sie damit allerdings erst anfangen, wenn ihr Teenager schon nichts mehr von ihnen wissen und nichts mehr mit ihnen zu tun haben will, wird es schwer. Es kann immer noch klappen, aber wohl nur, indem sich die Eltern wirklich besinnen und sich ernsthaft darum bemühen, ihren Kindern wirklich zu begegnen. Möglicherweise ist es dazu erforderlich, dass sie zugeben, es leider vorher nicht besser gewusst oder gekonnt zu haben und sich dafür entschuldigen.

 

Wie also können Eltern ihre Teenager in ihrer Potentialentfaltung optimal unterstützen? 

Prof. Dr. Gerald Hüther:

Solange Eltern und Kinder einander als Objekte behandeln und sich gegenseitig zu Objekten ihrer Bewertungen, Absichten, Interessen oder Belehrungen machen, können sie keinen lebendigen Austauschprozesse in Gang bringen. Dann haben beide ein Problem und unter diesen Bedingungen ist beiden die Entfaltung der in ihnen angelegten Potentiale nicht möglich.

Sobald es ihnen aber gelingt, einander als Subjekte zu begegnen, können sie wieder voneinander lernen und ihr Zusammenleben miteinander gestalten.

Dann ist die Entfaltung der in ihnen angelegten Potentiale unvermeidbar.

 

In der Pubertät wird des öfteren über die „Baustelle Gehirn“ gesprochen. Was meinen Sie dazu?

Prof. Dr. Gerald Hüther:

Es gibt menschliche Kulturen, in denen das, was wir „Pubertät“ nennen, gar nicht vorkommt oder von den Jugendlichen und den Erwachsenen ganz anders erlebt und interpretiert wird.

Wenn das stimmt, hat der im Gehirn durch Sexualsteroide ausgelöste Umbau nichts mit den von uns als „Pubertät“ bezeichneten Verhaltensweisen zu tun.

Vielmehr handelt es dann bei diesen Verhaltensweisen um eine „Kulturleistung“, die in sehr unterschiedlichen Ausprägungen von menschlichen Gemeinschaften entwickelt werden kann.

 

Wie werden wir also so, wie wir sind? 

Prof. Dr. Gerald Hüther:

Wir kommen alle schon unterschiedlich zur Welt, und dann wachsen wir in unsere jeweiligen Lebenswelten hinein und machen dabei z. T. sehr unterschiedliche individuelle Erfahrungen.

Manche fühlen sich gesehen und gemocht, andere erleben sich als unerwünscht und abgelehnt.

Manche erfüllen die elterlichen Erwartungen, andere nicht. Manche haben Geschwister, die sie mögen, andere nicht.

Und all diese jeweiligen Erfahrungen werden dann im Gehirn in Form spezifischer Verschaltungsmuster der Nervenzellen und Synapsen verankert.

 

Welche Einflüsse haben das Umfeld und die menschlichen Gemeinschaften wie die “Familie” beispielsweise?

Prof. Dr. Gerald Hüther:

Das Umfeld oder die Umwelt haben wir in der Vergangenheit immer den genetischen Anlagen gegenübergestellt und endlos darüber debattiert, was von beiden wichtiger sei.

Inzwischen beginnen wir zu begreifen, dass es keine genetischen Programme gibt, die unsere Hirnentwicklung steuern und dass es immer nur die subjektiven Bewertungen der „objektiv“ existierenden Umwelteinflüsse sind, die dafür bedeutsam sind, welche Erfahrungen eine Person in ihrem Gehirn verankert.

Zwei Kinder können also in eine weitgehend identische „Umwelt“ hineinwachsen, aber aus der Perspektive der beiden Geschwister sieht diese Welt, also ihre Familie, ihr Zuhause, ihre Schule etc. möglicherweise völlig verschieden aus. Und entscheidend für das, was im Gehirn geschieht ist eben das, was von dieser objektiven Welt für jede Person aus ihrer Perspektive, also subjektiv, als bedeutsam bewertet wird.

 

Wie sollten die menschlichen Gemeinschaften idealer Weise gestaltet sein, um allen Mitgliedern insbesondere den Jugendlichen die Möglichkeit zur Potentialentfaltung zu bieten?

Prof. Dr. Gerald Hüther:

Das ist sehr einfach zu beantworten, aber ziemlich schwer umzusetzen, weil wir es schon seit vielen Generationen anders praktizieren: Niemand dürfte einen anderen Menschen (oder sogar ein anderes Lebewesen) als Objekt behandeln und zum Objekt seiner Absichten und Maßnahmen, seiner Bewertungen und Erwartungen machen.

 

Heißt das, dass all die wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie das Gehirn aufgebaut ist, welche Verbindungen, Veränderungen und Netzwerke es dort gibt und wie sie funktionieren nicht ausreichen, um zu erklären, weshalb das Gehirn eines Menschen so geworden ist, wie es ist?

Prof. Dr. Gerald Hüther:

Es heißt nur, dass es nicht darum gehen kann, unsere Gehirne zu verändern, sondern dass wir unsere bisherige Art des Umgangs verändern müssten.

Dann würden sich auch unsere Gehirne verändern.

 

Wie würde die menschliche Gemeinschaft “Schule” idealtypisch aussehen, um die Jugendlichen optimal in ihrer Potentialentfaltung zu unterstützen?

Prof. Dr. Gerald Hüther:

Das wäre eine Schule, in der sich alle Beteiligten, also die Lehrkräfte, die Schulleitung, die Eltern und sogar das Hauspersonal als eine Gemeinschaft verstünden in der jeder Beteiligte nach Kräften dazu beitrüge, dass die ihnen anvertrauten Kinder ihre angeborene Lust am eigenen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten auf keinen Fall verlieren.

Dazu bedarf es übrigens durchaus bestimmter Regeln und Grenzen. Aber eben gemeinsam mit den Schülern und vor allen Beteiligten erarbeitete und verbindlich miteinander beschlossene.

 

Sie leiten unter anderem die Initiative „Schulen der Zukunft“ – was genau steckt hinter diesem Projekt?

Prof. Dr. Gerald Hüther:

In der Schweiz heißt diese Initiative, die ich mit einigen anderen Kollegen aufgebaut habe „Schulen der Zukunft“ (www.schulen-der-zukunft.org), in Deutschland und Österreich „Schulen im Aufbruch“ (www.schule-im-aufbruch.de).

Wir versuchen Schulen vor Ort dabei zu unterstützen, eine günstigere Art des Umgangs aller Beteiligten zu entwickeln. Es geht also um die Transformation der in diesen Schulen bisher herrschenden Beziehungskultur.

 

Des weiteren haben Sie eine Akademie für Potentialentfaltung gegründet – worum geht es hier?

Prof. Dr. Gerald Hüther:

Das ist eine Akademie in Gestalt einer gemeinnützigen Genossenschaft, die all jenen Personen eine Plattform für Begegnung und Austausch, für Aktivitäten und Initiativen bietet, denen der Aufbau einer Kultur der Begegnung in lebendigen Gemeinschaften am Herzen liegt und die etwas dafür tun wollen, dass unsere ökonomisierten und funktional durchorganisierte Welt wieder lebendig wird, indem an vielen Orten kleine Potentialentfaltungsgemeinschaften entstehen, die deutlich machen, dass wir auch anders und weitaus glücklicher zusammenleben, lernen und wirksam werden können. (www.akademiefuerpotentialentfaltung.org)

 

Herzlichen Dank Herr Prof. Dr. Hüther für Ihre wissenschaftlich fundierten Ansätze und Impulse zum Thema Potentialentfaltung in der Pubertät. 

Ich freue mich sehr,  dass Sie in dieser Form meiner Einladung zu Deutschlands erstem Pubertät Experten Kongresses 2015 gefolgt sind, und so Teil dieses einzigartigen Events sein konnten.

personenbanner

 

 

 

 

Wer sich gerne alle 19 Experteninterviews des Pubertät Experten Kongress 2015 dauerhaft anhören möchte (mp3) – darunter Jan Uwe Rogge, Prof. Dr. Remo H. Largo, Lienhard Valentin, Dr. med. Ruediger Dahlke, Jesper Juul-Partner Mathias Voelchert u.v.m. – und von den zahlreichen ebooks und Bonusmaterialien profitieren will, klickt HIER:

paket2_b

 

 

Weitere Hinweise zu Prof. Dr. Gerald Hüther:

www.gerald-huether.de

www.schule-im-Aufbruch.de

www.schulen-der-zukunft.org

www.akademiefuerpotentialentfaltung.org

Bücher von Gerald Hüther:

Etwas mehr Hirn, bitte: Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten, Vandenhoeck & Ruprecht, (2015)

Wer wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher, FISCHER Taschenbuch, (2013)

Jedes Kind ist hochbegabt, btb Verlag, (2013)